Symposion 2004 - Ein Erfahrungsbericht
von Herbert Neiseke
Ort: Iserlohn, Oberste Stadtkirche, Vorplatz
Zeit: Montag, 26. Juli 2004, 19.30 Uhr.
Umstände: Dichtes Besucher-Gedränge.
"Was findet hier statt?" - "Es gibt gleich ein Gitarrenkonzert von David Russell!" - "Aha. Ich bin Opernfan, - aber Gitarre? Da kenn ich nur Segovia."
Meine Auskunft an den zufällig vorbeigehenden, interessierten Handelsvertreter aus Holland, Russell sei ebenso gut wie Segovia, er solle sich dieses Konzert auf keinen Fall entgehen lassen, führt immerhin dazu, dass er sich trotz seines Hungers ("Ich habe seit Mittag nichts gegessen") zur Abendkasse mitnehmen lässt. Dort teilt ihm Frank Gerstmeier - der diese Story somit bestätigen kann! - ganz lapidar mit: "Besser als Segovia!" Die Bestimmtheit des Urteils in Verbindung mit der Körperstatur des Urteilenden müssen unseren Mann endgültig überzeugt haben:
Er ersteht eine der allerletzten Karten und quetscht sich - "Viel Spaß, Sie werden es nicht bereuen!" - in eine der noch nicht vollständig besetzten hinteren Kirchenbänke.
Was dann folgt, ist derart phänomenal, dass das Publikum bereits zur Pause steht und nach einer Zugabe verlangt. Am Ende wiederholt sich dies mehrfach! David Russell zu erleben ist ein unfassbares Ereignis! Besonders aufgewühlt wurde ich persönlich von Falus La Cuartelera sowie Bachs Choral-Prelude BWV 4. Händels Suite Nr. 7, bearbeitet vom Vortragenden selbst, darf sicher als eines der anspruchvollsten, am schwierigsten zu spielenden Stücke für die Gitarre gelten. Russell, der als "der kompletteste Gitarrist unserer Zeit" (New York Times) gilt, bewältigte es mit unglaublicher Präzision und Intuition. Welch ein Abend! Das 13. Internationale Gitarrensymposion in Iserlohn mit über 220 Teilnehmern und Dozenten aus 44 Ländern, darunter Australien, USA, Kanada, etlicher Länder Südamerikas, Japan, China und aus ganz Europa fand in diesem Jahr in der Woche von Sonntag, dem 25. Juli, bis Samstag, 31. Juli, statt, wie immer in den Räumen der Evangelischen Akademie Haus Ortlohn.
Die fantastische Atmosphäre dieser Tage wird nicht zuletzt durch die großartige Anlage dieses Hauses inmitten eines riesigen Parks mit alten Bäumen und einem kleinen See, einem großzügigen Atrium sowie lichtdurchfluteten Speisesälen und modernen kleineren und großen Übungsräumen garantiert. Überall hin können sich die Schüler und Studenten zurückziehen, von überall her klingen dem Besucher bekannte oder fremde Melodiebögen ins Ohr; nicht selten umstehen kleinere oder auch größere Pulks faszinierter Zuhörer einen übenden Gitarristen, der sich dann als Meister von morgen oder auch als Weltstar von heute herausstellt: Ständig nämlich testen an den Ständen der 22 Gitarrenbaumeister in den Ausstellungsfluren irgendwelche Cracks oftmals sehr intensiv die wertvollen Modelle!
Die außerunterrichtliche Begegnung zwischen den hochkarätigen Dozenten und den Studenten aus aller Welt - die in 12 Klassen parallel über 450 Einzelstunden oder Gruppenunterricht bekommen, morgens bei den Fingeraerobics bei Dale Kavanagh sowie in einem der zwei Ensembles mit Gerald Garcia oder Frank Gerstmeier mitmachen können - diese Begegnung findet in oft sehr lockerer Form statt: nachmittags beim Tee, in den Noten-Ausstellungen von Gitarren Viertmann (aus Köln) oder Musik Trekel (aus Hamburg), spätabends, nach den Konzerten, bei Bier oder Wein in oftmals spontanen Sessions, die auch schon mal bis in den frühen Morgen hinein gehen können!
Es ist diese Mischung aus strenger, ernsthafter Arbeit und lockerem, oft sehr humorvollem Umgang miteinander, die das Markenzeichen des Iserlohner Symposions ausmacht. Seit seinen Anfängen erhält es sein besonderes Flair durch die Persönlichkeit Thomas Kirchhoffs und dessen geniale Auswahl der Top-Gitarristen und die Zusammenstellung der Konzertabende: In diesem Jahr spielten und unterrichteten neben David Russell noch Roland Dyens aus Paris, der als der "Keith Jarrett der Gitarre" gilt und am Samstag ein bezauberndes Eröffnungskonzert mit jazzigen, immer auch hochkomplex-melodiösen Akzenten gab, die Nachwuchs-Stars Katrin Hohmann (Deutschland), Su Meng (China) und Roman Viazovskyi (Ukraine) am Dienstagabend, die alle drei ob ihres perfekten Vortrags sämtliche sehr anspruchsvollen und verwöhnten Hörer zu stehenden Ovationen und ungläubigem Kopfschütteln veranlassten, Stephen Robinson (USA) und Carlo Domeniconi (Italien/Berlin), der Schöpfer des berühmten Koyunbaba, am Mittwoch, Raphaela Smits (Belgien), die anspruchsvolle Stücke des 19. Jhs. auf z.T. alten Instrumenten meisterhaft vortrug, und das Duo Montes-Kircher (Spanien/Deutschland), die am Donnerstagabend rhythmisch mitreißend und sicher gespielt südamerikanische Musik präsentierten.
Am Freitagabend zauberten zunächst Wolfgang Lendle (Deutschland) und anschließend Eliot Fisk (USA), der drei komplette Bach-Suiten (f. Violoncello) in derart atemberaubender Manier erklingen ließ, so dass das Publikum am Ende völlig aus dem Häuschen war.
Den Abschlussabend bestritten wie gewohnt die Ensemblegruppen unter der Leitung und wie jedes Jahr mit einer Eigenkomposition von Gerald Garcia (London) sowie mit einem Stück von Alfonso Montes unter der Leitung von Frank Gerstmeier; mehrere herausragende Musikstudenten beeindruckten mit Stücken, an denen sie unter der Woche intensiv gearbeitet und gefeilt hatten: Auch dieser Abend war sehens- und insbesondere hörenswert!
Jedes Konzert fand in diesem Jahr vor vollen Kirchenbänken mit jeweils über 300 Besuchern statt, Dyens und Fisk vor absolut ausverkauftem Haus, das von Russell war, siehe oben, "total überfüllt" (Originalton Kirchhoff). Kein Wunder - trägt doch auch die besondere Akustik der Oberen Stadtkirche dazu bei, dass man überall in ihr noch die feinsten Arpeggios genießen kann, zumal das Publikum stets so still und konzentriert ist, dass man die berühmte Stecknadel fallen hören könnte.
Wer als angehender Musiklehrer oder gar Sologitarrist hier in Iserlohn nicht dabei ist, sei es aktiv oder auch nur passiv, der verpasst eine Riesenchance, die Welt der Konzertgitarre in all ihren Nuancen hautnah zu erleben. Zumal die günstigen Kosten (435,- Euro für 7 Nächte Unterkunft und Vollpension - und das heißt: first-class-Hotel-Mahlzeiten! - , sämtliche Konzerte, Unterricht-, Ensemble- und Vorträge-Teilnahme) ein zusätzliches Argument sind, sich dieses Event auf keinen Fall entgehen zu lassen!
Ebensowenig, wie ich es im neuen Jahr tun werde und wie es der kluge, hungrige Holländer beim Russell-Konzert
tat. 2005 werden u.a. Aniello Desiderio, Costas Cotsiolis, Carlo Marchione, Das Kaltchev-Duo, Dale Kavanagh,
The Saffire Quartet, Waldemar Gromolak, Laura Young, David Leisner, Tilman Hopstock, Massimo delle Cese und
Jorge Cardoso Konzerte und Meisterkurse geben. Anmeldung und Info auf dieser Webseite.